Dossier
“… Vor allem hat das Urteil sofortige Wirkung – und sorgt daher zumindest aufschubweise für Sanktionsfreiheit für neue Fälle. Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) hat nach Informationen des »nd« die Jobcenter aufgefordert, bis zur Klärung der Umsetzung des Urteils zu den Hartz-IV-Sanktionen vorerst keine neuen Sanktionsbescheide zu vollstrecken. (…) Bereits sanktionierte würden hingegen weiterhin sanktioniert bleiben – und nur auf 30 Prozent zurückgestuft. Auch seien neue Verfahren wegen Regelverstößen weiterhin einzuleiten, nur eben erstmal nicht zu sanktionieren. (…) Wir »haben vereinbart, in den nächsten zwei, drei Wochen zunächst mal keine Sanktionen auszusprechen, auch nicht im Jugendbereich.« Auch bei den Jobcentern in kommunaler Trägerschaft haben sich nach Recherchen von »nd« mehrere dazu entschieden, übergangsweise erst einmal nicht mehr neu zu sanktionieren. (…) Ein großer Unsicherheitsfaktor, der mit zu dem derzeitigen Sanktionsaufschub geführt hat, ist die Frage, wer ab sofort ein Härtefall ist – und als solcher nicht mehr sanktioniert werden darf. (…) »Hier sind Abstimmungen mit dem BMAS, den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden notwendig.« »Die einzige Ausnahme bei den Sanktionen bleiben die Meldeversäumnisse. Diese werden wir weiter verhängen, weil wir damit rechnen, dass sie in ihrer heutigen Form Bestand behalten«, sagte Worm. Das diese auch bei der BA weiter geahndet werden, bestätigte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit…” Artikel von Alina Leimbach vom 07.11.2019 beim ND online : “Sanktionsaufschub in den Jobcentern. Nach dem Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen bittet das Arbeitsministerium um Vollzugsstopp neuer Sanktionen”, siehe dazu u.a. die vorläufige Weisung der BA und des BMAS zu Sanktionen und Tacheles-Hinweise:
- [Buch] Hartz IV: das Urteil – Der Kampf geht weiter! Ein ExistenzMINIMUM kann man nicht kürzen
Von Burkhard Tomm-Bub, M. A. ist am 22.11.2019 ein Book on Demand erschienen (Paperback, 92 Seiten, ISBN-13: 9783750421783, 4,49 € inkl. MwSt. / portofrei) mit folgernder Gliederung: 1) Das Sanktions-Urteil 2) Beraterische Konsequenzen 3) Analyse der Sanktionen – oder – Die Vernichtung des Hartz IV anhand von Fakten und Erkenntnissen unterschiedlicher Wissenschaften. 4) Konkreter Widerstand gegen Hartz IV. Taktiken und Strategien. 5) Unsere Ohrfeigen – Performance vor dem BVerfG am 05.11.2019 6) Hall Of Fame.
- SGB II-Sanktionen: Neue Weisung der BA
“… Nun gibt es die Weisung der BA, in der sie klipp und klar sagt: keine Leistungsminderung durch Sanktionen oberhalb 30 % des Regelbedarfes. Den ganzen Vorgang hat Inge Hannemann auf der Homepage von Tacheles e.V. dargestellt , am Ende des Textes gibt es die neuen Weisungen und eine Gegenüberstellung alte/neue Weisung, um die Änderungen nach unserer Intervention nachvollziehen zu können. (…) Dann möchte ich neben den oben genannten grundsätzlichen Erwägungen des EuGH folgende Punkte anmerken:
Das BVerfG sagt eine Leistungsminderung soll nicht erfolgen, wenn dies im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer „außergewöhnlichen Härte“ führen würde. Eine solche liegt insbesondere dann vor, wenn eine Minderung in der Gesamtbetrachtung des Einzelfalls untragbar erscheint. Diese liegt meines Erachtens an folgenden Punkten vor, wenn…”Aus dem Thomé Newsletter 44/2019 vom 09.12.2019
- Schulden an die Regionaldirektion oder sonstige Forderungseinzugsstellen getilgt werden
Gibt das Jobcenter Forderungen wegen Aufhebung, Erstattungs- oder Kostenersatz oder Darlehen an den jeweiligen Forderungseinzug weiter und werden dort Ratenzahlungsvereinbarungen getroffen, werden diese Forderungen bei Nichteinhaltung einer vereinbarten Zahlung sofort in voller Höhe fällig. In der Folge fallen Zinsen, Mahngebühren und ggf. Vollstreckungskosten an. In diesem Fall liegt eine besondere Härte vor, was dazu führen muss, dass nicht sanktioniert werden darf. Ansonsten würde das Existenzminimum deutlich unterschritten werden.
- Bundesagentur für Arbeit korrigiert nach einem Leak den Entwurf der neuen Sanktionsregelungen
“Das war schon ein starkes Stück, was sich die Bundesagentur für Arbeit (BA) und das Bundesarbeitsministerium geleistet haben. Obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Anfang November entschieden hat, dass Hartz-IV-Sanktionen über 30 Prozent „verfassungswidrig“ sind, sollen auch in Zukunft Kürzungen über 30 Prozent möglich sein. Das geht aus einem Entwurf der neuen fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit hervor, die zunächst vom Erwerbslosenverband Tacheles e.V. in Wuppertal geleakt wurden. Und die sind brisant. Auf der Webseite des Verbandes schreibt Tacheles: „Bundesagentur für Arbeit plant mit neuen Dienstanweisungen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen zu unterlaufen!“ Das sitzt. (…)Nach der Veröffentlichung des Entwurfes musste die Bundesagentur für Arbeit und das Bundesarbeitsministerium umschwenken. Das fordert bereits schon das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019. Es ist trotzdem erschreckend, wie versucht wurde, dieses Urteil mit Tricks zu umgehen.” Beitrag von von Inge Hannemann vom 04.12.2019 bei Tacheles mit allen Dokumentien, siehe dazu auch:
- BA und BMAS haben versucht, das Urteil des Verfassungsgerichts zu umgehen – und konnten dabei gestoppt werden
“BA und BMAS wollten mit einer neuen Weisung entgegen des Urteils des BVerfG wieder Sanktionen oberhalb von 30 % des Regelbedarfes durchsetzen. Diese Umgehung sollte mit einer Addierung der 30 % Sanktionen wegen Pflichtverstößen und 10 % wegen Meldeversäumnissen erfolgen. Die Argumentation der Verantwortlichen war: da das BVerfG diese Addierung nicht explizit untersagt habe, sei sie zulässig und wenn sie zulässig ist, und wenn wir es nicht untersagt bekommen, dann machen wir es auch. Tacheles hatte dieses Projekt am Mittwoch bekannt gemacht und Alarm geschlagen, die Weisungsentwürfe veröffentlicht und die Medien und interessierte Öffentlichkeit auf diesen Versuch der Aushebelung der Begrenzung von Sanktionen aufmerksam gemacht. Herr Heil, als zuständiger Minister ist dann sofort zurückgerudert, hat was von “Missverständnissen” erzählt und eigentlich für das Wochenende eine neue Weisung ohne Missverständnisse angekündigt, die doch noch nicht ergangen ist. So jetzt nochmal zusammengefasst: dieser Kampf ist gewonnen, das Projekt Sanktionen oberhalb 30 % durchzusetzen, ist für das BMAS und die BA erstmal gescheitert. Wir sind schon gespannt darauf, was sich die BA und das BMAS das nächste Mal ausdenken, um das Sanktionsregime nun wieder durchzuziehen oder ob sie es mal sein lassen und im Lichte des Urteils des BVerfG wirklich mal an geeigneten Weisungen arbeiten, die nicht nur darauf abstellen mit juristischer Winkelakrobatik die maximal mögliche Existenzvernichtung der ALG II-Beziehenden jederzeit und immer durchsetzen zu können…” Aus dem Thomé Newsletter 43/2019 vom 01.12.2019
- [Gemeinsame Erklärung] Arbeitslose fördern statt ins Existenzminimum eingreifen
“In einer gemeinsamen Erklärung fordern die Arbeiterwohlfahrt, die Diakonie Deutschland und der Paritätische Wohlfahrtsverband gemeinsam mit weiteren Partnern, Verbänden, und Organisationen wie Tacheles, die bestehenden Sanktionsregelungen im Hartz-IV-System aufzuheben und ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung einzuführen. Anlass ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019, nach dem die Sanktionen nur teilweise verfassungswidrig sind. Die Unterzeichnenden sind sich einig: Es darf keine Kürzungen am Existenzminimum geben. Durch Sanktionen werde das Lebensnotwendige gekürzt und soziale Teilhabe unmöglich gemacht. Die Politik ist schon lange in der Verantwortung, das Hartz-IV-System so zu ändern, dass die Würde der Leistungsbezieher geachtet und nicht durch Sanktionen beeinträchtigt wird.” Gemeinsame Erklärung vom 5. November 2019 – wir danken Harald Thomé für den Hinweis
- Bundesagentur für Arbeit plant mit neuen Dienstanweisungen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen zu unterlaufen!
“Die BA möchte entgegen des Urteils des BVerfG wieder Sanktionen oberhalb von 30 % des Regelbedarfes durchsetzen. Wir erlauben uns deshalb die dahingehenden internen Weisungen im Entwurfsstadium zu veröffentlichen um dieses Kalkül offenzulegen. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) überarbeitet derzeit ihre Dienstanweisungen zu den Sanktionen im SGB II. Das wurde nötig, weil das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 5. November 2019 die Hartz-IV-Sanktionen für verfassungswidrig erklärt hatte. Dem Verein Tacheles, der bei dem Sanktionsverfahren als sachverständiger Dritter beteiligt war, liegen nun die Entwürfe der geplanten Änderungen vor und diese sind erschreckend. Die BA versucht nach Ansicht des Vereins die Entscheidung des BVerfG durch ihre Weisungen zu umgehen. Die Dienstanweisungen sind für alle Jobcenter in sogenannten gemeinsamen Einrichtungen verbindlich, auch die Jobcenter in Optionskommunen orientierten sich in der Regel an diesen Vorgaben. (…)Die BA plant nun, Sanktionen wegen Pflichtverletzungen (30 %) und Sanktionen wegen Meldeversäumnissen (10 %) gegebenenfalls zu addieren (Quelle: Rz 31.34, Rz 32.4a Weisungsentwurf). Durch eine solche Addition würde eine wesentliche Vorgabe des BVerfG missachtet, weil bei zeitlichem Zusammentreffen von mehreren Sanktionen das 30-Prozent-Limit überschritten würde. (Hintergrundinformationen in der Anmerkung) Zudem hat das BVerfG ausdrücklich erklärt, dass bezüglich der Gewährung von Sachleistungen und Wertgutscheinen erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel bestehen, da kein verbindlicher Anspruch auf diese Ergänzungsleistungen besteht und diese auch der Höhe nach nicht konkret quantifiziert sind. Nun sieht der Entwurf der neuen Weisung vor, dass solche Sachleistungen und Wertgutscheine weiterhin möglich sein sollen. Sie sind vorgesehen, wenn die Leistungen infolge des Zusammentreffens mehrerer Sanktionen um 50 Prozent und mehr gekürzt werden. (Quelle: Rz 31.37). Auch mit dieser Weisung stellt sich die BA gegen die Vorgaben des BVerfG. Schließlich bleibt im vorliegenden Weisungsentwurf auch der Umstand unberücksichtigt, dass bei vielen Leistungsbeziehenden die tatsächlichen Unterkunftskosten nicht anerkannt werden. Diese müssen einen Teil der Unterkunftskosten aus dem Regelsatz finanzieren. In solchen Fällen ist die Wohnung bei Sanktionen von 30 Prozent und mehr akut gefährdet, was bei einer Entscheidung über Leistungskürzungen zwingend zu beachten wäre. In dem Weisungsentwurf wird dieser Aspekt bei der Prüfung, ob ein Härtefall vorliegt, jedoch nicht einmal erwähnt. „Die BA will mit den geplanten Weisungen, die vom Verfassungsgericht auf 30 Prozent begrenzten Sanktionen aushebeln. Tacheles verurteilt diesen Versuch, Leistungskürzungen in das unverfügbare Existenzminimum hinein aufrecht zu erhalten, auf das Schärfste. Deshalb schlagen wir Alarm und fordern die BA auf, sich an die Vorgaben des BVerfG zu halten und diese zeitnah mit Augenmaß umzusetzen“, so Harald Thomé vom Erwerbslosenverein Tacheles…” Tacheles-Mitteilung vom 27.11.2019 mit den Weisungsentwürfen der BA in Abstimmung mit dem BMAS zum Download. Siehe dazu:
- ver.di zu Hartz-IV-Sanktionen: Existenzminimum darf nicht angetastet werden
“Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) fordert den Gesetzgeber auf, dafür zu sorgen, dass das Existenzminimum künftig komplett frei von Maßregelungen bleibt. „Betroffene brauchen Unterstützung und keine Sanktionen“, bekräftigte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke am Mittwoch. Zuvor war berichtet worden, dass die Bundesagentur für Arbeit und das Bundesministerium für Arbeit (BMAS) an einer internen Weisung arbeiten, die die kürzlich vom Bundesverfassungsgericht gezogene Grenze bei Sanktionen im Sozialgesetzbuch II (SGB II) über 30 Prozent hinaus erweitern könnte. Das BMAS will einer Mitteilung zufolge sicherstellen, dass die rote Linie des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen nicht überschritten wird, was ver.di zwar grundsätzlich begrüße. Das reiche jedoch nicht aus, betonte Werneke: „Vor allem müssen die bestehenden Regelungen aufgehoben und durch ein menschenwürdiges und verfassungskonformes System ersetzt werden. Das Sozialstaatsgebot und die Menschenrechtsartikel im Grundgesetz geben eindeutig vor, dass das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum überhaupt nicht sanktioniert werden darf“, stellte der ver.di-Vorsitzende klar…” ver.di-PM vom 27.11.2019
- Hartz-IV-Urteil: Bundesagentur kassiert Sanktionsbescheide für alle
“… Nach dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesagentur für Arbeit Sanktionen auch gegen Betroffene unter 25 Jahren ausgesetzt. “Wir verschicken derzeit keine Sanktionsbescheide”, sagte Arbeitsagentur-Chef Detlef Scheele den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Den Jobcentern sei mitgeteilt worden, dass die vom Gericht angemahnte Änderung der Sanktionspraxis auch für junge Arbeitslose gelte. (…) Neue Bescheide zu Sanktionen würden derzeit nicht versendet, sagte Scheele. “Arbeitslose, die aktuell mit Abzügen von 60 oder 100 Prozent sanktioniert werden, bekommen ihre Sanktionen auf 30 Prozent reduziert.” Bis Ende November solle eine rechtlich verbindliche Übergangslösung geschaffen werden, die bis zur für kommendes Jahr angestrebten gesetzlichen Neuregelung gelte. (…) Das Deutsche Kinderhilfswerk forderte, Sanktionen für Familien mit Kindern komplett abzuschaffen. “Bundesregierung und Bundestag sollten das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von letzter Woche zum Anlass nehmen, die bisherige Hartz-IV-Mithaftung von Kindern für ihre Eltern zu beenden”, erklärte Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann am Donnerstag. “Die schlichte Umsetzung des Karlsruher Urteils ist aus Sicht von Familien mit Kindern zu wenig”, erklärte er. “Kinder leiden unter jeder Kürzung der Hartz-IV-Leistungen, denn schon der normale Hartz-IV-Regelsatz von Kindern entspricht nicht dem notwendigen soziokulturellen Existenzminimum.” Jede Kürzung sei somit eine “außergewöhnliche Härte für die Kinder”…” Meldung vom 14. November 2019 beim Spiegel online
- Tacheles e.V.: Folgen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanktionen
“Wir fassen mit diesem Papier die relevanten unmittelbaren zu beachtenden Folgen und Ergebnisse, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Sanktionen vom 05. Novem-ber 2019 – 1 BvL 7/16 ergeben, zusammen…” Hinweise vom 10.11.2019 und ein Beratungsinfoblatt
- Die interne vorläufige Weisung der BA und des BMAS zu Sanktionen vom 6.11.2019
“Öffentlich wird gesagt, keine Sanktionen für U – 25’er (Scheele im DLF 07.11.), hier wird gesagt, das BVerfG hat darüber gar nicht entschieden. Jetzt mal Klartext, es ist ein sofortiges SANKTIONSMORATORIUM durchzuführen. Es sollte jede Sanktion bis auf weiteres Ausgesetzt werden, dann muss zusätzlich geklärt werden, wie mit gekürzten KdU und Sanktionen umgegangen wird, wie mit der Daueraufrechnung nach § 43 SGB II umgegangen wird. Ziel, erstmal SECHS MONATE KOMPLETTES AUSSETZEN JEDER SANKTION, einschließlich der Aufrechnungen nach §§ 42a, 43 SGB II und Diskussion, unter Einbeziehung der Wohlfahrts- und Sozialverbände.” Harald Thomé auf Fratzebuch samt Foto der Weisung
Der Beitrag Sanktionen nach dem BVerfG-Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen – wie weiter? erschien zuerst auf LabourNet Germany.